Log 131
Wiedergutmachung
Autor: Manoel Ramirez
„Mira! Mira!“ Das kleine Andoria-Mädchen war nicht mehr zu halten. Sie riss sich einfach los und rannte auf ihren Vater zu, der sie fest in die Arme schloss und hoch hob. „Wie kann ich Ihnen nur danken?“, wandte sich Graven an den hochgewachsenen, stämmigen Mann, der die Kleine mitgebracht hatte und die Szene augenscheinlich recht unbeteiligt betrachtete. „Lassen Sie nur“, winkte der unwirsch ab. „Meine Rechnung haben Sie beglichen; und diesen kleinen Quälgeist loszuwerden, ist mir Belohnung genug.“ Als sich der Hüne zum Gehen wandte, murmelte die Kleine ihrem Vater etwas ins Ohr, woraufhin dieser sie wieder herunter ließ. Sie rannte zurück zu dem Mann und umschlang, da sie nicht höher kam, sein rechtes Bein fest. Leicht verdutzt griff dieser mit beiden Armen nach ihr und stellte sie vor sich, bevor er in die Hocke ging. „Möchtest Du noch etwas?“, fragte er. Die Kleine nickte heftig und breitete ihre Arme weit aus. „Na gut“, brummte der Mann und umarmte sie, wobei er unvermittelt einen Kuss auf die Wange gedrückt bekam. Zum ersten Mal seit langer Zeit zauberte somit ein unschuldiges kleines Kind, wenn auch nur kurz, ein Lächeln auf sein Gesicht. Sanft nahm er ihre Arme von seinem Hals und sagte: „So, jetzt muss ich weiter. Du und Dein Daddy habt Euch sicher viel zu erzählen.“ Unsicher blickte Mira zu ihrem Vater hinüber, während der Riese wieder aufstand. Bevor sie ihm aber Folge leistete, zupfte sie an seiner Hose. „Was denn noch?“, brummte der Mann. Das Mädchen hielt ihm ihre geöffnete Hand hin. Darin lag ein bunter Stein, den sie bei ihrem letzten Stopp aufgesammelt hatte. Objektiv wertlos, aber hübsch anzusehen und für ein Mädchen ihres Alters sicher etwas ganz Besonderes. Der mürrische Mann sah sie überrascht an: „Für mich?“ Mira nickte. „Danke“, sagte er ehrlich gerührt und nahm den Stein, woraufhin sich Mira wortlos umdrehte und zu ihrem Vater rannte. So entging ihr, dass ihrem wortkargen und brummigen Retter Tränen in die Augen schossen. Anders als der Frau Mitte 50, welche die Szene aus sicherem Abstand beobachtet hatte.
Rethara VII war eine karge Welt. Noch vor zehn Jahren hatte der Planet als das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum der umliegenden zehn Sektoren gegolten. Von diesem Glanz war dank dieses unseligen Kriegs nichts mehr übrig geblieben, wie Ramirez festgestellt hatte. Aber wenigstens war Rethara nicht mehr im Auge der Gegenpartei. Die Orionen hatten sich mit den Romulanern und Klingonen arrangiert und einfach ihr Territorium ein wenig erweitert. Flüchtlinge sammelten sich hier, praktisch ausnahmslos solche der Föderation. Das wenige, was sie hatten, nahm ihnen das Syndikat noch ab. Aber wenigstens waren sie hier sicher vor der Verfolgung durch die Beta-Mächte. Zumindest vorerst. Der Spanier hegte wenige Zweifel, dass sich die Feinde bald neue Ziele suchen würden; und da kamen die eigentlich bei niemandem sonderlich beliebten Orionen gerade recht. Ramirez war das egal. Genau genommen war ihm so ziemlich alles egal, und zwar schon verdammt lange. Er hatte seine Pflicht für Gott und Vaterland getan, und was hatte es ihm eingebracht? Schnurstracks begab er sich in die nächste Bar und nickte dem Orionen hinter dem Tresen kurz zu. Mehr brauchte es nicht. In den letzten Monaten war er schon oft hier gewesen. Der Spanier setzte sich an einen der hinteren Tische, und sofort kam der Barkeeper mit einer Flasche und einem Glas in den Händen; nach einem kurzen Blick auf den Gast nahm er letzteres jedoch kopfschüttelnd wieder mit. Der ehemalige Sicherheitschef der Katana setzte die Flasche an und nahm einen tiefen Schluck. Markianischer Whisky. Das Zeug schmeckte furchtbar, aber in diesen Zeiten konnte man nicht wählerisch sein. Irdische Getränke waren hier draußen inzwischen wertvoller als Latinum. Ramirez setzte die Flasche ab und starrte ins Leere. Er fragte sich, wie lange wohl überhaupt noch jemand das Adjektiv „irdisch“ verwenden würde. Wenn, dann allenfalls noch mit einem reinen Bezug zu dem blauen Planeten. Aber an eine Zivilisation dürfte dabei bald keiner mehr denken, vielleicht mit Ausnahme einer kleinen Randnotiz in klingonisch-romulanischer Geschichte. Selbst hier draußen kannte man das offene Geheimnis, dass es um die Föderation aussichtslos stand. Der Spanier schnaubte verächtlich. Die Föderation. Dekadent waren sie gewesen. Kein Mitglied des Oberkommandos hatte ernsthaft erwartet, den Krieg verlieren zu können. Anders war es kaum zu erklären gewesen, dass man selbst nahe der Frontlinie den Truppen Live-Unterhaltung geboten hatte. Lächerlich und in Zeiten fortgeschrittener Holoübertragung vollkommen überflüssig. Ramirez griff in seine Tasche und holte ein Holobild seiner Schwester hervor, das er vor sich auf dem Tisch platzierte. Wut kam in ihm auf, während er seine Fäuste ballte. „Unterstützung der Truppenmoral“ hatte man es genannt. Der gesamte Madro-Sektor hatte als „absolut sicher“ gegolten, als ideal für ein großes Konzert einiger der beliebtesten Musikstars der gesamten Föderation. Eine von ihnen war Conchita gewesen. Es musste direkt nach ihrem Auftritt passiert sein. Der Feind hatte entschieden, dass dieses Konzert die beste Bühne für die Demonstration seiner neuesten Waffe dargestellt hatte. Ein einziger romulanischer Warbird hatte eine Substanz namens „Qui'Shan'Bo“ freigesetzt. Das klingonische Wort kannte Ramirez nicht, aber innerhalb der Föderation wurde es schnell als „Atmosphärenverbrenner“ berüchtigt. Binnen Sekunden verwandelte eine vergleichsweise geringe Menge dieses Teufelszeugs die Atmosphäre eines ganzen Klasse-M-Planeten in ätzende Säure. Kein Leben, nicht mal die berüchtigten Kakerlaken, war dagegen gefeit. Wäre es nicht so schwer herzustellen gewesen, hätte die Gegenseite den Krieg vermutlich schon lange zu ihren Gunsten beendet gehabt. Während Ramirez erneut die Flasche ansetzte, hatte er zum zweiten Mal heute Tränen in den Augen. Erst als er das Getränk wieder abstellte, bemerkte er, dass sich ein weiterer Gast an seinem Tisch niedergelassen hatte. „Brol!“, rief er wütend zur Bar hinüber. „Ich dachte, ich hätte mich schon beim letzten Mal klar ausgedrückt. Ich will...“ - in diesem Moment bemerkte der Spanier eine Hand auf seinem Arm. Instinktiv wollte er den zu ebendieser Hand gehörenden Arm ergreifen, aber der Neuankömmling war schneller und zog selbige Hand wieder weg. „Die Reflexe funktionieren also noch. Naja, wenigstens besser, als man erwarten sollte“, meinte der vermummte Gast. Diese Stimme kam dem Spanier irgendwie bekannt vor. Während er noch grübelte, schlug sein Tischgenosse die Kapuze zurück. Zum Vorschein kam eine Frau, nur ein paar Jahre älter als Ramirez, der das Gesicht sofort erkannte und staunend erstarrte. Währenddessen war der Barkeeper an den Tisch getreten. „Ma'm, wenn ich Sie bitten dürfte. Dieser Herr wünscht all...“ Ramirez unterbrach ihn: „Lass gut sein, Brol. Diese Frau ist zu hartnäckig, als dass ich ihr dauerhaft aus dem Weg gehen könnte.“ Der Orione stutzte, zuckte nur mit den Achseln und ging wieder. Als der Barkeeper außer Hörweite war, ergriff der Spanier als erster das Wort: „Melanie Weißmann. Wie lange ist das jetzt her? 20 Jahre? Was zum Henker wollen Sie auf diesem Felsen?“ „Prentice“, korrigierte die Frau und hob kurz ihre Hand, an deren Finger ein schlichter Ring prangte. „Und es sind 21 Jahre, seit sie Meyers' Stab verließen.“ „Wie auch immer“, brummte Ramirez. „Kommen wir gleich zum Punkt. Soweit ich mich entsinne, waren Sie auch immer sehr direkt.“ Ramirez musste unwillkürlich schmunzeln. Melanie Prentice bzw. Weißmann war in seiner Zeit bei der „KoKo“ die Ansprechpartnerin beim Geheimdienst gewesen. Die beiden hatten sich viele Wortduelle geliefert, woraus er meist nur als zweiter Sieger hervorgegangen war. Die Geheimdienstoffizierin stand auf: „Manoel Ramirez, Kraft der Sternenflottenverordnung 85b, Absatz 3, versetze ich Sie hiermit wieder in den aktiven Dienst. Sie erhalten Ihre Uniform und Ihre Rangabzeichen als Lieutenant Commander, sobald Sie Ihren neuen Posten antreten.“ Klirrend fiel die Flasche, die der Spanier gerade wieder ansetzen wollte, zu Boden und verteilte ihren Inhalt über selbigen. Ramirez starrte Prentice fassungslos an. „Das kann nicht Ihr Ernst sein“, brachte er mühsam hervor, als er seine Sprache schließlich wieder gefunden hatte. „Ich habe den Dienst vor Jahren quittiert. Ich bin fertig mit der Flotte.“ „Diese Reserveaktivierungsklausel ist den wenigsten Leuten bekannt und wurde seit Jahrzehnten nicht mehr verwendet“, ließ Prentice sich nicht beirren. „Das ändert aber nichts an ihrer Gültigkeit. Packen Sie Ihre Sachen. Sie wurden gerade eingezogen.“
Keine 15 Minuten später saßen die beiden alten Streithähne in einem Shuttle. Der Spanier hatte nicht lange für sein Gepäck gebraucht, hatte er doch eine baldige Abreise beabsichtigt. Erst an Bord hatte er erfahren, dass Prentice inzwischen Admiral war. Es mutete schon seltsam an, dass sich so jemand wegen eines einzelnen Menschen hierher begeben hatte. „Also, was soll das Ganze?“, begann Ramirez. „Meine Leute haben hin und her überlegt. Sie sind definitiv der beste Mann für diese Operation.“ „Danke für die Blumen. Aber das sagt mir gar nichts.“ „Manoel, Ihr Spezialfach waren Taktische Operationen. Sie haben in den letzten fünf Jahren mehr halsbrecherische Aktionen durchgeführt als viele Geheimdienstoffiziere in ihrer gesamten Karriere.“ „Ich führe Familien wieder zusammen, die durch den Krieg getrennt wurden, und verdiene verdammt gut mit der Erfüllung einer Aufgabe, die eigentlich der Flotte obliegt.“ „Und sind dabei Dutzende Male in feindliches Territorium eingedrungen.“ Prentice umfasste die Handgelenke des Spaniers. „Manoel. Wie Sie über die Flotte denken, haben Sie bereits klar ausgedrückt. Aber wir haben Ihre Schwester nicht getötet. Es waren die Romulaner mit ihrem verdammten Qui'Shan'Bo.“ Ramirez entzog sich ihrem Griff. „Sie hätte gar nicht dort sein sollen. Dieses ganze Konzert war von vorn bis hinten eine Farce. Man konnte den Spitzohren gar keine bessere Gelegenheit geben, ihre Entschlossenheit zu demonstrieren.“ Prentice legte die gefalteten Hände an die Lippen und nickte. „Aus heutiger Sicht bin ich geneigt, Ihnen Recht zu geben. Und als damals verantwortliche Offizierin für die Sicherheit der Veranstaltung möchte ich Ihnen mein tief empfundenes Bedauern und Mitgefühl ausdrücken.“ Jetzt war Ramirez völlig perplex. Seit über zehn Jahren hatte sich niemand bei ihm entschuldigt. Und heute, ganz plötzlich, unvermittelt,... Prentice bemerkte, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte, und fuhr fort: „Sie sind ein intelligenter Mann, Manoel. Sie wissen, wie es um den Krieg steht. Und Sie wissen so gut wie ich, dass die Kleine, die sie heute zu ihrem Vater gebracht haben, auf Rethara VII nicht dauerhaft sicher sein wird. Das heißt, sofern die geplante Operation scheitert.“ „Und ausgerechnet ich soll dabei helfen? Warum sollte ich das tun?“ „Wegen eines wertlosen bunten Steins.“ Das hatte gesessen. Der Spanier wusste nicht, was er antworten sollte. Gleichzeitig wurde Prentice bewusst, dass sie ihn weich gekocht hatte. Für die ihm zugedachte Rolle brauchte es Erfahrung und vor allem die Fähigkeit, Ruhe zu bewahren. Beides zeichnete den Spanier aus. Als einen der wenigen Offiziere, die noch lebten. Der Rest war in die direkte Erdverteidigung eingebunden. Zudem kannte dieser brummige Mensch wenigstens einen Teil seiner Mitstreiter, so dass trotz der vergleichsweise kurzen Vorbereitungszeit durchaus Hoffnung auf einen Erfolg der Mission bestand. „Also verlieren wir keine Zeit“, begann Prentice die Mission zu erläutern. „Sie werden Ihre alten Kameraden von der Katana begleiten und den Einsatzverlauf überwachen. Unser Ziel liegt nicht weit von hier, nahe des Penthara-Systems. Sagen Sie, wie sehen Sie eigentlich mit Pilzkopf aus?“