Stingray
Stingray
Autor: TCR
Sternzeit: 55524.7
Datum: 10.07.2378
"Da bist du ja endlich!" Ungeduldig hopste Linnett Domian vorm "Stützpunkt", wie Lieutenant Fiona Shaw und ihre Kollegen das Gebäude nannten, in dem sie und die Sicherheitszentrale der Kolonie untergebracht waren, herum. "Was ist denn los, Ma'am?" gab sich die Taktikspezialistin der Sicherheitstruppe ahnungslos. Sofort setzte Linnett eine todernste Miene auf und baute sich zu ihrer ganzen beeindruckenden Größe von 1,20 Metern vor Fiona auf. "Sie haben versprochen, heute mit mir das neue Eiscafe in der Dritten Straße auszuprobieren, Lieutenant!" Fiona tat erstaunt: "Habe ich das, Ma'am?" Entrüstung zeigte sich auf dem Gesicht des Mädchens, als dieses die Hände in die Hüften stemmte: "Also wirklich, ich glaube, ich muss einmal mit Ihrem Vorgesetzten sprechen, Lieutenant! Wie können Sie nur so vergesslich sein!" Fiona lachte schallend: "Na, dann ist es ja gut, dass ich meine Credits dabei habe."
Sie winkte Linnett's Vater, der die Szenerie aus einem Fenster des Nachbarhauses, in dem er mit seiner Tochter wohnte, heraus beobachtet hatte, gutgelaunt zu und rief hinüber: "Wenn es in Ordnung ist, bringe ich sie in einer halben Stunde zurück." Andrus antwortete: "Ruhig auch früher, wenn sie Ihnen zu sehr auf die Nerven geht, Lieutenant!"
Irgendwie hatte Fiona sich mit dem Mädchen angefreundet. Vermutlich lag es daran, dass Linnett sie an ihre kleine Schwester erinnerte, die sie seit ihrer Versetzung hierher nach Vela leider nur noch viel zu selten sah. Fiona nahm Linnetts Hand und fröhlich schlenderten die beiden durch die sonnenhellen Straßen der Kolonie. Das Wetter versprach einen wundervollen Tag, bei angenehm frühsommerlichen Temperaturen. Anfangs hatte Fiona es irritiert, morgens beim Verlassen des Hauses nicht zu wissen, wie abends, wenn man heim kam, das Wetter sein mochte, doch mittlerweile hatte sie sich an die noch unkontrollierte Witterung auf Vela gewöhnt und sie eigentlich sogar zu schätzen gelernt. Irgendwie hatte es schon seinen Reiz und war es angenehm, nicht immer die gleiche Temperatur zu haben und auch einmal Wolken am Himmel zu sehen und Regen tagsüber zu erleben.
So gesehen hatte Vela schon seinen ganz besonderen Charme - nur die immer wiederkehrenden Piratenüberfälle trübten das Bild von der aufstrebenden Kolonie. Die Minenbetreiber hatten erwogen, private Söldner anzuheuern, um die Kolonie zu schützen, doch nachdem die Sternenflotte mit dem Bau der Starbase 727 begonnen und angekündigt hatte, ein Raumschiff zum Schutz hier zu stationieren, hatten sie schließlich von der Idee Abstand genommen. Nicht nur ihr Vorgesetzter, Lieutenant Commander Frederik Tolan, hatte das Risiko einer unkontrollierbaren Eskalation der Gewalt gesehen; auch Bürgermeister Wilson befürchtete einen Krieg, den die Söldnertrupps möglicherweise verlieren konnten. Daher hatte er Tolan immer stärker gedrängt, endlich für Verstärkung der hiesigen Militärpräsenz zu sorgen.
"Warum sagst du eigentlich immer noch 'Sie' zu meinem Vater?" erkundigte sich Linnett unterwegs. "Und er nennt dich sogar noch 'Lieutenant'." Sie drehte sich um und lief rückwärts weiter, während sie kicherte: "Dabei weiß ich ganz genau, dass er dich mag!" Fiona errötete leicht, was Linnett aber glücklicherweise gar nicht bemerkte, und antwortete: "So ist das eben bei Erwachsenen. Manchmal brauchen wir etwas mehr Zeit als Kinder." Linnett blieb stehen und sah ihre große Freundin ernst an. Fiona fragte sich, was nun kommen mochte, denn eigentlich war ihr nicht danach zumute, ihre Beziehung zu Andrus, so man überhaupt von etwas derartigem sprechen konnte, mit dessen Tochter zu diskutieren. Sie kannte die beiden ja überhaupt erst seit einigen Wochen, und auch wenn sie Linnett schon längst in ihr Herz geschlossen hatte, so war sie momentan an einer ernsthaften Änderung ihrer Lebensumstände eigentlich nicht interessiert. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob ein verwitweter Mann mit einer Tochter im Teenager-Alter, der auch noch mehr als zehn Jahre älter als sie selbst war, überhaupt der Richtige für sie sein konnte.
"Mir würde es gefallen, wenn du ihn mögen würdest", stellte Linnett nun fest. "Gut, er ist manchmal etwas komisch, aber das seid Ihr Erwachsenen ja alle." Sie drehte sich erneut um und hopste weiter die Straße entlang. "Also nichts, womit du nicht umgehen könntest. Ah, da sind wir ja!" Fiona war froh, durch die Ankunft beim Eiscafe um eine Antwort herum gekommen zu sein, und beeilte sich zu fragen: "Was haben die denn hier für leckere Sorten?"
Captain Tess Gilbert saß auf dem Kommandosessel, der mitten auf der Brücke ihres kleinen Schiffes der Defiant-Klasse, der USS Stingray, stand. Der neueste Auftrag, der ihnen von Starfleet Command übergeben worden war, hatte das Zeug, zum langweiligsten Job in der gesamten bekannten Galaxie zu avancieren. "Schutz der Kolonie auf Vela sowie der im Orbit um Vela im Bau befindlichen Starbase 727" lautete der Befehl, der ihr von Admiral Vindaro vor zwei Wochen gegeben worden war. Tess hatte die Zeit der Anreise genutzt, um sich mit der Kolonie, den dortigen Latinum-Minen und der Baustelle der neuen Starbase vertraut zu machen. Trotzdem steckte ihr und auch ihrer 50 Mann starken Besatzung die Reise so langsam in den Knochen. Ein Schiff der Defiant-Klasse war definitiv nicht für den langen Aufenthalt im Raum konzipiert. Quartiere meist ohne Fenster, kein Holodeck, nur eine kleine Messe - kurz, nichts, das einem ein gewisses Maß an Zerstreuung und Abwechslung bieten konnte. Und das Ganze dann auch noch mit Ausblick auf eine Mission, bei der es offenbar nur darum ging, ein paar verängstigte Kolonisten an die Hand zu nehmen.
Tess ließ sich die von Starfleet Command übermittelten Informationen noch einmal durch den Kopf gehen. Vermutlich war die Lage auf Vela doch ernster, als sie im Moment annahm. Zunächst hatte die Flotte ein Sicherheitsteam zur Kolonie entsendet - hauptsächlich, um unter den Bewohnern für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Wie in vielen jungen Kolonien herrschte auch auf Vela so etwas wie Goldgräberstimmung - umso mehr, als dass dort auch noch ausgerechnet Latinum abgebaut und in Gold gepresst wurde. Viele zwielichtige Gestalten suchten an solchen Orten ihr Glück - und hatten ihre Probleme gleich mit im Gepäck. Doch Lieutenant Commander Frederik Tolan, der die Sicherheitstruppe auf Vela leitete, hatte im Hauptquartier mehrfach dringend um Unterstützung gebeten. Denn das größte Gefährdungspotenzial stellten nicht mehr die Kolonisten, sondern marodierende Piraten dar, welche die Kolonie mitsamt ihren Minen regelmäßig überfielen und ausraubten. Daraufhin hatte das Hauptquartier den Bau einer neuen Starbase im Orbit von Vela beschlossen. Zum einen, um die Kolonie und die Minen sowie die an- und abfliegenden Frachter zu schützen, zum anderen, um den Abtransport des Latinums und die Versorgung der Kolonie an einem Ort zu bündeln.
In der jüngsten Vergangenheit hatten die Piraten jedoch sogar die Baustelle von Starbase 727 angegriffen. Immerhin mussten sie - völlig zu Recht, wie Tess fand - annehmen, dass die Raumstation wehrhaft genug sein würde, um die Überfälle wenn nicht gar ganz zu verhindern, diese aber doch zumindest erheblich zu erschweren. Doch noch war 727 nur ein lebloser Klumpen Metall im All - und die Bauzeit würde sicher noch mindestens vier Jahre betragen. Die Kommandantin hoffte indes inständig, dass sie und ihre Crew nicht so lange hier mitten im Nirgendwo am Rande des bekannten Raumes gestrandet sein würden. Vindaro hatte gemeint, Starbase 727 sei in etwa 11 Monaten so weit, dass sie sich zumindest selbst würde verteidigen können, aber der Admiral hatte offen gelassen, ob damit dann auch der Abzug der Stingray einher gehen würde.
"Wir nähern uns nun dem Vela-System, Captain", verkündete Lieutenant Mestral endlich den Satz, auf den nicht nur Tess beinahe sehnsüchtig gewartet hatte. Nach einem absolut ereignislosen Flug versprach der Eintritt in das fragliche Sternensystem zumindest etwas Abwechslung. Und wer weiß? Vielleicht konnten sie am Abend schon einen ersten Ausflug auf die Planetenoberfläche unternehmen und endlich einmal wieder frische Luft atmen. "Auf Impulsgeschwindigkeit gehen und vollen Scan des Systems durchführen!" befahl Tess entsprechend enthusiastisch. Thomas MacArran, der OPS-Offizier, berichtete kurz darauf: "Alles so wie wir es nach den vorliegenden Informationen erwarten durften, Captain." Er klang fast ein wenig enttäuscht, ging es Tess durch den Kopf. Sie lauschte dem Bericht des Lieutenants jedoch aufmerksam, als er den Aufbau des Systems beschrieb. "...Nur die Baustelle von 727 und die Kolonie sehen irgendwie merkwürdig aus, Captain. Aus dieser Entfernung kann ich es allerdings nicht genauer sagen - aber ich habe den Eindruck, dass dort irgendetwas nicht stimmt." Möglicherweise wurde es am Ende dieser Reise doch noch spannend. "Irgendwelche anderen Schiffe in Sensorreichweite?" erkundigte sich die Kommandantin. MacArran schüttelte den Kopf: "Nichts, was unsere Sensoren entdecken könnten, Captain." Tess rückte sich ein wenig auf ihrem Sitz zurecht, bevor sie befahl: "Dann bringen Sie uns mal dort hin, Mr. Mestral. Und schauen wir mal, was uns der gute Lieutenant Commander Tolan Neues zu berichten hat." Mit diesen Worten nickte sie Thomas zu, der daraufhin einen Kommunikationskanal zum Leiter der Sicherheitstruppe auf Vela öffnete. Nach einer ungewöhnlich langen Pause meldete er schließlich: "Kanal ist offen, Captain, Audio und Video." Tess nickte: "Sehr schön, auf den Schirm!"
Der Satz, den sie sich zur Begrüssung zurecht gelegt hatte - die Reise war wirklich sehr lang gewesen - blieb ihr jedoch buchstäblich im Halse stecken. Sie musste sich kurz sammeln, denn anstelle des erwarteten Mittvierzigers schaute sie das staubige, verrußte und ordentlich zerkratzte Gesicht einer Frau Mitte zwanzig an. Die Frisur der Blondine, die sicherlich normalerweise zweckmäßig, aber trotzdem nicht unattraktiv war, war übelst derangiert. Tess fragte sich kurz, warum ihr ausgerechnet das mit als erstes auffiel, doch die junge Frau wirkte einfach ziemlich mitgenommen. Lieutenant Fiona Shaw, erinnerte sich die Captain an ihren Namen. Sie hatte während der Anreise auch die Dienstakten der auf Vela stationierten Sternenflotten-Angehörigen studiert. Betroffen vom Anblick, den die Lieutenant bot, erhob sich Tess langsam aus dem Kommandosessel. "Lieutenant Shaw? Ich bin Captain Tess Gilbert. Was ist passiert?"
Doch auch wenn Fiona äußerlich ziemlich fertig aussah, antwortete sie mit klarer und fester Stimme: "Gut, dass Sie hier sind, Sir. Wir wurden vor drei Stunden erneut Opfer eines Überfalls der Piraten." Sie stockte kurz, bevor sie ergänzte: "Lieutenant Commander Tolan kam wie einige andere bei dem Angriff ums Leben. Ich habe die Leitung des Sicherheitsteams übernommen." Tausend Fragen kamen Tess sogleich in den Sinn, doch sie erkundigte sich zunächst: "Ich vermute, Sie benötigen technische und medizinische Unterstüzung?" Fiona nickte kurz: "Ja, Sir. Bisher haben wir 179 Verletzte und 53 Tote geborgen. Aber es sind noch etwa 20 Personen in zwei teilweise eingestürzten Gebäuden eingeschlossen. Außerdem gab es einen Felssturz in einer der Minen. Dort sind 37 Arbeiter gefangen. Die Raider griffen ohne jede Vorwarnung aus dem Orbit an. So etwas hat es bisher noch nicht gegeben und daher hatten wir es nicht erwartet, Sir." Die Captain wandte sich an ihren Ersten Offizier: "XO, jede verfügbare Kraft ist für die Rettungsmaßnahmen freigestellt. Sorgen Sie nur dafür, dass mir eine Rumpfcrew an Bord bleibt. Lieutenant Shaw, wir sind in wenigen Minuten im Orbit. Meine Leute werden Ihnen dann Unterstützung leisten." Fiona nickte erneut: "Danke, Sir." Die Verbindung wurde geschlossen.
"Soll ich die Leitung der Rettungsmaßnahmen übernehmen, Captain?" erkundigte sich Commander Daye, der Erste Offizier der Stingray. Tess musterte ihn kurz, bevor sie antwortete: "Ich überlasse Ihnen diese Entscheidung, Reon. Shaw kennt die Umstände dort unten sicherlich besser als wir und kann am ehesten einschätzen, wie unsere Leute von Nutzen sein können. Sie ist vermutlich geschockt, aber sie wirkt auf mich nicht, als habe sie die Situation nicht im Griff. Aber wenn Sie dort unten einen anderen Eindruck erhalten sollten, tun Sie alles, was Sie für notwendig erachten." Reon nickte, dann rief er die Brückenoffiziere zusammen, die ihn auf den Planeten begleiten sollten.
Wenig später trat die USS Stingray in den Standardorbit um Vela ein. Während Commander Daye mit einem Großteil der Besatzung auf die Oberfläche beamte, berichtete Ensign Cassandra Harris, die nun die OPS-Konsole bediente: "Ich erkenne einige Schäden an den Gebäuden der Kolonie, Captain. Die Angreifer scheinen relativ wahllos auf alles Mögliche geschossen zu haben. Etwa 14 Prozent der Gebäude sind zerstört, weitere 25 Prozent beschädigt." Sie drehte sich kurz zur Kommandantin um, bevor sie ihre Einschätzung abgab: "Es muss dort unten aussehen, wie im Krieg, Ma'am." Die Captain nickte leicht. Sie hatte sich zwar Abwechslung gewünscht, aber einen Luftangriff auf eine zivile Kolonie mit Toten und Verletzten hatte sie dabei weiß Gott nicht im Sinn gehabt. "Was ist mit der Raumstation?" erkundigte sie sich. Cassandra wandte sich wieder ihrer Konsole zu und führte weitere Scans durch. Dann meldete sie: "Auch die Baustelle wurde angegriffen. 727 hat einigen Schaden genommen, Captain. Aber die Feuerkraft der Angreifer hat offenbar nicht ausgereicht, den Rumpf vollständig zu zerstören. Ich denke, die Beschädigungen sind reparabel, aber der Baufortschritt wird sicher um einige Zeit zurückgeworfen. So wie es aussieht, befanden sich zum Zeitpunkt des Angriffs aber keine Arbeiter an Bord." Die Kommandantin stimmte zu: "Den Berichten zufolge war die Baustelle schon vorher Ziel von bewaffneten Angriffen. Die Arbeiter wurden jedes Mal auf die Oberfläche evakuiert."
Daye Reon rematerialisierte zusammen mit der Bordärztin und dem Chefingenieur der USS Stingray im "Stützpunkt", dem Gebäude, das die Sicherheitstruppe der Sternenflotte beherbergte. Das Haus war seit der Ankunft der Sternenflottenangehörigen zu einer Art Polizeistation avanciert. Das erste, das Reon auffiel, nachdem er angekommen war, war ein fenstergroßes Loch in einer der Seitenwände des Raumes, in dem er sich nun befand. Offenbar hatte auch dieser Stützpunkt bei dem Angriff Schaden genommen.
Fiona drehte sich zu den Neuankömmlingen um, als sie das Summen des Transporterstrahls vernahm. Sie bemerkte Reon's Blick auf das Loch in der Wand und erklärte, während sie zur Begrüßung die Hand ausstreckend auf den Commander zu trat: "Dort befand sich unsere Haupt-Kommunikationsphalanx, Sir. Sie wurde mit als Erstes zerstört. Es ist Crewman Thoris erst kurz vor Ihrem Eintreffen gelungen, dieses Terminal kurzstrecken-kommunikationstauglich zu machen", deutete sie auf einen kleinen Tischcomputer, der bisher nur notdürftig vom Zementstaub befreit worden war. "Lieutenant Commander Tolan befand sich in dem Raum, als der Schuss... Ich war noch auf dem Korridor, das hat mir das Leben gerettet."
Reon ergriff die Hand der jungen Frau, was diese zunächst zum Schweigen brachte. "Ich bin Commander Daye Reon, der Erste Offizier der Stingray." Reon musterte die Lieutenant kurz, bevor er fortfuhr: "Das dort sind Doktor Nale Marat und Lieutenant Commander Yong Nguyen, unser Chefingenieur." Fiona schüttelte auch die Hände der beiden anderen Offiziere, doch bevor sie noch etwas sagen konnte, polterte ein etwas untersetzter Mann, der ein wenig abseits gestanden hatte, los: "Endlich sind Sie da! Wann verfolgen Sie diese Bastarde? Die Überfälle waren ja schon schlimm genug, aber jetzt ist es hier ja wie im Krieg! Wir haben schon vor Wochen auf die unsägliche Situation mit den Piratenangriffen hingewiesen, aber alles, was uns die Sternenflotte geschickt hat, ist eine Handvoll Soldaten, die noch nicht einmal orbitaltaugliche Waffen dabei haben! Und jetzt sind über 50 Leute tot!"
Reon und Fiona tauschten einen Blick und Fiona stellte vor: "Commander Daye, Mr. Wilson, Bürgermeister der Vela-Kolonie." Der Commander nickte und reichte dem aufgebrachten Kolonisten ebenfalls die Hand: "Ich versichere Ihnen, Sir, Captain Gilbert wird alles, was in ihrer Macht steht, tun, um diesen Angriff aufzuklären. Aber momentan sollten wir uns doch sicher auf die Rettungsmaßnahmen konzentrieren, damit es nicht noch mehr Opfer gibt, nicht wahr?" Wilson schnappte kurz nach Luft, konnte gegen dieses Argument des Sternenflottenoffiziers aber nicht viel sagen. Reon wandte sich daraufhin wieder an Fiona: "Wie können wir Ihnen am besten helfen, Lieutenant?"
Ein paar Stunden später trat Reon wieder auf die Brücke der Stingray. Als er den Blick der Captain bemerkte, blickte er an seiner verstaubten Uniform hinab und entschuldigte sich: "Tut mir Leid, Captain, ich hatte noch keine Gelegenheit, mich umzuziehen. Ich dachte, Sie würden meinen Bericht umgehend hören wollen." Tess schmunzelte leicht, bevor sie wieder ernst wurde: "Da haben Sie recht, XO. Nun, wie ist die Lage auf Vela?" Der Erste Offizier straffte sich kurz, bevor er berichtete: "Alle Opfer sind geborgen, Captain. Insgesamt sind 61 Tote und 214 Verletzte zu beklagen. Lieutenant Commander Tolan ist das einzige Todesopfer aus den Reihen der Flotte. Ein paar der Verletzten befinden sich an Bord unserer Krankenstation. Auch die eingeschlossenen Minenarbeiter konnten wir befreien. Etwa ein Drittel der Gebäude der Kolonie sind beschädigt oder zerstört, darunter auch das Quartier unserer Sicherheitstruppe. Marat und Nguyen sind noch unten und leisten mit ihren Teams weitere Unterstützung." Tess nickte. "Sie haben die Leitung der Bergungsmaßnahmen Lieutenant Shaw überlassen?" Reon nickte: "Ja, Captain, sie hat dort unten alles im Griff. Ich habe ihr nur den Bürgermeister, Mr. Wilson, ein wenig vom Leib halten müssen. Er hätte es am liebsten gehabt, wenn wir umgehend mit allen Mann zum großen Halali auf die Piraten geblasen hätten. Der gute Mann ist es vermutlich gewohnt, hinter seinem Schreibtisch zu sitzen, statt darunter, wobei seine Erregung angesichts der Umstände durchaus verständlich ist." Tess nickte und berichtete dann ihrerseits: "Nun, wir waren ja auch nicht ganz untätig. Wir haben einen ersten Patrouillenflug durchs System unternommen. Die Angreifer stammen offenbar tatsächlich aus dem noch unerforschten Gebiet. Zumindest führen die Ionenspuren ihrer Raider dorthin. Das System selber ist aber sauber - es sei denn, es gibt eine getarnte Basis." Sie machte eine kurze Pause, bevor sie nachschob: "Ich möchte mir gern selbst ein Bild von der Lage auf Vela machen, XO." Reon hakte sofort ein: "Das halte ich für keine gute Idee, Captain. Die Bewohner stehen momentan noch ziemlich unter Schock und ich befürchte, ihre Angst wird sich schon bald wie beim Bürgermeister in Ärger und Wut verwandeln. Und vermutlich werden sie der Sternenflotte vorwerfen, bei ihrem Schutz versagt zu haben. Ich möchte nicht, dass Sie zur Zielscheibe dieses Zorns werden, Captain." Die Captain erhob sich nun aus dem Kommandosessel: "Ich teile Ihre Besorgnis, Commander. Deswegen halte ich es für umso wichtiger, jetzt Präsenz zu zeigen. Dies ist keine Mission, die in einer oder zwei Wochen vorüber sein wird, Reon. Wir werden es uns dort unten gemütlich machen müssen. So sehr ich die Stingray auch liebe, ich habe trotzdem keine Lust, monatelang auf ihr eingeschlossen zu sein. Daher müssen wir den Kolonisten zeigen, dass sie nun nicht mehr alleine sind und wir mit ihnen im selben Boot sitzen." Reon gab sich geschlagen: "Dann nehmen Sie aber wenigstens Telev mit, Captain." Tess schmunzelte erneut: "Das wird nicht nötig sein, da ich beabsichtige, mich mit Lieutenant Shaw zu treffen. Ich denke, in ihrer Nähe werde ich absolut sicher sein." Sie musterte ihren Stellvertreter erneut, bevor sie sich erkundigte: "Glauben Sie, Sie können mich hier für eine Weile vertreten, XO?" Der Commander nickte: "Natürlich, Captain. Geben Sie mir nur eine halbe Stunde, um mich ein wenig zu... erfrischen." Die Kommandantin antwortete: "Sie haben eine, XO."
Erneut veranlasste das Summen eines Transporterstrahls Fiona Shaw, sich umzudrehen. Konnten die Leute nicht einfach den Kommunikator benutzen, jetzt, da die Kommunikation provisorisch über das Kom-System der Stingray im Orbit abgewickelt wurde? Die junge Lieutenant nahm jedoch sofort Haltung an, als sie im Neuankömmling die Kommandantin des Raumschiffs erkannte. "Stehen Sie bequem, Lieutenant", begrüsste Tess sie und reichte ihr die Hand. Fiona lächelte leicht und ergriff die Hand. "Willkommen in der Vela-Kolonie, Captain Gilbert. Ich wünschte, die Umstände wären besser." Die Captain musterte die junge Frau und erkundigte sich dann: "Wie geht es Ihnen, Lieutenant?" Fiona hatte mit der unvermeidlichen Aufforderung zu einem Bericht gerechnet, und musste sich daher kurz sammeln. "Ich bin etwas erschöpft, Sir, dieser Tag war sehr anstrengend. Aber ansonsten bin ich wohlauf." Tess ignorierte die diversen blutig-verkrusteten Kratzer im Gesicht der jungen Offizierin zunächst. Dann blickte sie sich um. Die beiden Frauen standen auf einer Straße neben einem schwer beschädigten Gebäude, an dem einige Arbeiter beschäftigt waren. "Was liegt hier an?" wollte sie dann wissen. Fiona deutete auf die Gebäuderuine und erklärte: "Die Wand droht, umzustürzen. Wir versuchen, sie in Richtung des Inneren des Gebäudes zu drücken, damit sie niemanden erschlägt. Allerdings fehlt uns im Augenblick schweres Gerät dafür."
Die junge Frau machte eine kurze Pause und rief dann zu den Arbeitern herüber: "Hey, Jerry, komm doch mal rüber, bitte!" Einer der Bauarbeiter blickte auf und kam dann auf die beiden Frauen zu. Fiona sagte: "Captain Gilbert, das ist Jerry Anders, der Vorarbeiter des Bautrupps, der die Starbase errichtet." Jerry zögerte kurz, mit seiner verstaubten Hand die Hand zu schütteln, die ihm von Captain Gilbert daraufhin zur Begrüssung hingestreckt wurde. "Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Anders. Geht es Ihren Leuten gut?" wollte die Kommandantin dann zunächst wissen. Jerry rümpfte leicht die Nase, dann antwortete er: "Als die Raider kamen, beamten wir uns runter, so wie wir das immer machen. Wir wissen ja, dass die Typen es auf die Starbase abgesehen haben. Und dann erwischt es Jimmy und Knopfler hier unten. Verdammte Sauerei, das, wenn Sie mich fragen, Captain. Aus dem Orbit auf wehrlose Leute zu ballern!" Tess nickte mitfühlend: "Tut mir sehr Leid, Mr. Anders. Die Besatzung der Stingray und ich werden es nicht zulassen, dass sich etwas derartiges wiederholt. Trotzdem sollten sich Ihre Leute auch in Zukunft weiterhin bei Gefahr hierher beamen. Immerhin können wir leider auch nicht überall sein." Jerry nickte kurz, dann erkundigte sich Tess mit Blick auf das marode Gebäude: "Können wir hier irgendwie helfen?"
Jerry sah sie zweifelnd an: "Wenn Sie nicht gerade einen mittelgroßen Bagger im Laderaum haben, Lady, damit wir hier an der Wand etwas schieben können, dann wüsste ich nicht..." Fiona unterbrach ihn, denn ihr war eine Idee gekommen: "Vielleicht kann die Stingray mit dem Traktorstrahl helfen?" Tess warf der Lieutenant einen anerkennenden Blick zu: "Interessanter Vorschlag, Lieutenant. Ich wüsste nicht, dass irgendjemand zuvor ein Raumschiff für Abrissarbeiten benutzt hätte." Fiona errötete, doch die Captain hatte bereits ihren Kommunikator betätigt: "Gilbert an Nguyen!" - "Hier Nguyen. Was gibt es, Captain?" erklang umgehend die Antwort des Chefingenieurs. "Lieutenant Shaw schlägt vor, eine einsturzgefährdete Wand mithilfe des Traktorstrahls der Stingray gefahrlos umzuwerfen. Ist so etwas möglich?" wollte Tess wissen. "Ich denke schon, Captain. Ich wollte sowieso gerade an Bord zurückkehren und schaue mir das dann an." - "In Ordnung Yong. Melden Sie sich dann bei Mr. Jerry Anders. Er ist der Vorarbeiter der Starbase und befasst sich gerade mit der fraglichen Wand." - "Verstanden, Captain." Tess schloss den Kom-Kanal und sah den Vorarbeiter an: "Lieutenant Commander Nguyen ist der Chefingenieur der Stingray und wird..." Jerry unterbrach sie: "Den kenn ich schon; guter Mann. Hat geholfen, die 37 Minenarbeiter rauszuholen." Dann wandte er sich an Fiona: "Wenn der Yong uns hilft, haben wir die Wand hier im Nu klein, Mädel." Er beugte sich daraufhin wieder zur Captain und raunte: "Sorgen Sie mal dafür, dass sie sich ausruht, Lady. Die Kleine hat heute schon genug geleistet!" Ohne auf eine Antwort zu warten, stapfte der Vorarbeiter zu seinen Kollegen zurück.
"Sie müssen entschuldigen, Sir", hob Fiona an, "aber die Leute hier draußen sind einfach... etwas rustikaler..." Tess blickte dem Vorarbeiter schmunzelnd hinterher bevor sie die Lieutenant ansah: "Oh, Sie glauben garnicht, wie rustikal ich werden kann, wenns sein muss, Lieutenant." Dann wurde die Captain wieder ernst: "Aber er hat Recht. Melden Sie sich bei Doktor Marat, damit sie die Verletzungen in Ihrem Gesicht behandelt und dann ruhen Sie sich aus." Fiona protestierte: "Das sind doch nur Kratzer! Außerdem gibts hier noch genug andere Baustellen..." Tess unterbrach sie: "Um die sich jetzt erst einmal andere kümmern, Lieutenant. Die akute Bedrohung ist vorüber und der Tag fast vorbei. Ich werde für morgen eine Besprechung aller Beteiligten einberufen, wo wir unser weiteres Vorgehen absprechen. Da brauche ich Sie ausgeruht und fit!" Fiona machte große Augen, dann nickte sie: "Verstanden, Sir." Tess warf ihr einen freundschaftlichen Blick zu: "Und nennen Sie mich Captain!"
Müde und ziemlich erschöpft, aber immerhin ohne die Schmerzen der Wunden im Gesicht, betrat Fiona einige Zeit später wieder den "Stützpunkt". Das Haus hatte zwar einen Treffer abbekommen, doch glücklicherweise war es nicht einsturzgefährdet und noch bewohnbar. Bei einem kurzen Rundgang vergewisserte Fiona sich, dass ihre Leute vollzählig anwesend waren. Fast alle schliefen bereits. Fiona war stolz auf ihre Truppe; alle hatten sie heute tatkräftig mit angepackt und in vielen Fällen noch Schlimmeres verhindert.
Sie fragte sich, wie es nun wohl weitergehen würde? Eigentlich war sie als Lieutenant doch noch viel zu jung, um das Sicherheitsteam zu führen, doch andererseits hatte Frederik sie schon vor geraumer Zeit zu seiner Stellvertreterin gemacht und keiner im Team hatte diese Entscheidung je in Frage gestellt. Auch heute hatten sich alle vertrauensvoll an sie gehalten, als durch den sich langsam setzenden Staub das Ausmaß der ganzen Katastrophe nach und nach sichtbar wurde. Besonders hatten sie Captain Gilbert und Commander Daye überrascht. Fiona war davon ausgegangen, dass der Erste Offizier der Stingray die Leitung der Rettungs- und Bergungsoperation sofort übernehmen würde, doch stattdessen hatte er sie um ihre Einschätzung der Lage gebeten und ihr freie Hand bei der Koordination der unterschiedlichen Maßnahmen gelassen. Er hatte sich sogar mit dem Bürgermeister auseinandergesetzt - eine Aufgabe, die bislang immer ihr selbst zugefallen war. Es tat gut zu wissen, dass die beiden kommandierenden Offiziere ihr solch großes Vertrauen entgegen brachten.
So in Gedanken bog sie um die letzte Korridorecke - und bemerkte, dass die Tür zu ihrem Quartier offen stand. Etwas dunkler als gewöhnlich schien das Licht aus dem Raum auf den verstaubten Teppich im Flur. Langsam trat Fiona näher und entdeckte Linnett. Die 8-jährige hatte sich von irgendwoher einen kleinen Eimer und einen Lappen organisiert und wischte nun unbeholfen den Staub, den der Beschuss des Gebäudes überall hinterlassen hatte, von den Schränken. Als sie Fiona bemerkte, hielt sie inne und meinte: "Ich dachte, ich versuch hier ein bisschen sauber zu machen. Du hast ja bestimmt jetzt ganz viel anderes zu tun..." Ein unglaublich dicker Kloß hatte sich urplötzlich in Fiona's Hals gebildet.
Als der Alarm ausgelöst wurde, waren Fiona und Linnett gerade auf dem Heimweg vom Eiscafe gewesen. Fiona hatte Linnett nach Hause geschickt, doch das Mädchen hatte darauf bestanden, im "Stützpunkt" zu bleiben, weil das spannender sei. Eigentlich entsprach das nicht den Vorschriften, doch im Nachhinein hatte es sich gewissermaßen als Glücksfall erwiesen - wenn man denn überhaupt etwas Positives in der Tatsache sehen konnte, dass Linnett's Elternhaus bei dem Beschuss, der auch den "Stützpunkt" getroffen hatte, vollständig zerstört worden war, und die Rettungsteams später ihren Vater tot aus den Trümmern geborgen hatten.
"Ich hatte doch Mrs. Neumann gebeten, sich um dich zu kümmern!" begann Fiona mühsam. "Das hat sie ja auch!" verteidigte Linnett die Nachbarin sofort. "Aber ich... ich möchte lieber hier bleiben. Ich werde auch bestimmt nicht stören! Und ich kann hier für Ordnung sorgen! Ich habe sogar schon das Bett neu bezogen! Und zuhause räume ich doch auch immer..." Dicke Tränen traten in die weit aufgerissenen Augen des Mädchens, als ihr klar wurde, dass es so etwas wie Normalität in einem Zuhause für sie auf absehbare Zeit nicht mehr geben würde. Fiona lief auf sie zu und zog sie in ihre Arme. Im Versuch, zu trösten, wo es eigentlich keinen Trost geben konnte, strich sie über den Kopf des Kindes, dessen abgrundtiefe Verzweiflung sich nun ungehindert Bahn brach.