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Wolken

From PathfinderWiki

Wolken
Autor: Dalen Lazarus
Anfangssternzeit: 57408,13
Endsternzeit: 57580,49
Anfangsdatum: 27.05.2380 (13:07 Uhr)
Enddatum: 31.07.2380 (11:05 Uhr)


Bilder zierten den Flur des Hauses, den Matthew soeben betreten hatte. Aufnahmen von Kindern, von Erwachsenen, Fotografien von Greisen. Manche Rahmen zeigten Collagen, zeigten den Werdegang eines Kindes hin zum Erwachsenen und zum Greisen. Matthew stand im Flur und sein Blick verlor sich in den Bildern.

„Matthew“, sagte Thomas hinter ihm. „Wir müssen nach oben.“ Matthew kannte die Gesichter der Aufnahmen. Im Laufe seines langen Lebens hatte er sie kennengelernt und wieder verloren. „Matthew.“ „Ja? Ja, ich komme“, erwiderte er. Er stützte sich auf seinen Stock und näherte sich der Treppe. Als er sie erreicht hatte, reichte er die Gehhilfe an seinen Begleiter. Er legte die rechte Hand auf das Geländer und hakte sich mit seiner linken unter Thomas Arm. Vorsichtig setzte er den linken Fuß auf die erste Stufe, stemmte sich mühsam nach oben, dann zog er den rechten Fuß nach. Er wiederholte das Ritual, bis er die fünfzehn Stufen geschafft hatte. Sie hatten den ersten Stock erreicht.

„Dort müssen wir hinein“, sagte Thomas. Matthew sah den Flur hinunter. Ja, er erinnerte sich an das Gebäude. Er war schon einmal hier gewesen. „Anne?“, fragte er leise. „Sie ist bestimmt hier. Laß mich sie kurz sehen.“


Dalen Lazarus war mit seiner Familie verabredet, die ein wenig Urlaub genoß. Die Katana hatte vor knapp zwei Wochen das Gefecht mit den Borg hinter sich gebracht. Ebenso hatte Dalen die übliche, notwendige Abschlußbesprechung hinter sich gebracht. Er wußte nicht, was schwieriger zu bekämpfen war. Die Borg oder die Bürokraten der Sternenflotte. Sarkastisch entschied er sich für letzteres.

Die Verabredung, dachte er, während er sich langsamen Schrittes in Richtung des Transporterraums aufmachte. Er hatte Zeit. Die Katana hatte einen Standardorbit um den Jupitermond Io eingenommen. Es würde noch eine Weile dauern, ehe das Schiff die Transporterreichweite erreicht hätte. Deshalb war es sicher nicht der kürzeste Weg, den er gewählt hatte. Seine Schritte lenkten ihn in den Außenbereich der Diskussektion. Als er sie erreicht hatte, schritt er gemächlich an den Fenstern entlang. Sein Blick klebte an den Sternen. Er vermißte das Funkeln, das sie so geheimnisvoll erschienen ließen. Doch wo sollte er auf einmal eine Planetenatmosphäre herzaubern. Er war Wissenschaftler und kein Magier. Er glaubte, entfernt die Ringe des Saturns zu erblicken. Doch wahrscheinlich spielte ihm seine Einbildung einen Streich.

Schließlich umrundete er spazierend den Bug der Katana und zögerlich spähte Io um die Ecke, klopfte an Dalens Bewußtsein und begehrte Einlaß. Von seinen Vulkanen pockenvernarbt schämte der Mond sich weiter, bis Commander Lazarus ihn dabei ertappte, wie sie sich gegenseitig ansahen. Dafür war Dalen Wissenschaftler geworden. Und dafür war er in die Sternenflotte eingetreten. Nirgendwo sonst konnte er das All in all seinen unterschiedlichen Facetten zu Gesicht bekommen, wie er es an Bord eines Föderationsschiffes konnte.

Dalen vergab dem Jupitermond und beschloß, ihn weiter anzusehen. Er hatte noch etwas Zeit.


Anne sah aus, wie er sie in seiner Erinnerung behalten hatte. Sie sah frisch aus, wie sie auf ihrem Schaukelstuhl saß und etwas strickte. Jung. „Hallo Anne“, sagte Matthew, als er langsam auf sie zuging. „Ich grüße Dich, Matthew,“ erwiderte sie und lächelte ihn an. „Wir haben uns lange nicht gesehen.“

Wie lange das gleich noch war, dachte Matthew. „Drei Jahre, drei Jahre, ist das richtig?“, fragte er die brünette Frau. Sie lächelte. „Zwei nur. Du warst wegen Iana hier.“

Iana. Sie war Annes Kind. Sie war ihr inzwischen achtes Kind. Sie hatte es bekommen, als sie 97 Jahre alt geworden war. Weit war die Menschheit inzwischen gekommen, sinnierte Matthew. Der Weg der Forschung war, das Leben eines Menschen zu verlängern. Das Ziel ... Unsterblichkeit? Die großen Konzerne hatten viel Geld in die Forschung der Nano-Satelliten gesteckt und umso viel mehr Geld hatten sie daraus verdient. Es lag an den Nano-Satelliten, daß die Menschen gesund blieben, bis ins hohe Alter hinein. Es waren winzig kleine Maschinen, die in die Blutbahn gespritzt wurden. Einmal injiziert, sorgten sie für die einwandfreie Funktion der Organe und führten Reparaturen durch. Die Menschen wurden sehr alt.

Das war, bevor die roten Wolken kamen.


„Guten Morgen, Captain“, begann Aretha Cunningham das Gespräch. Innerlich verknotete sich Ariell Needa, als sie die überhebliche kleine Schrumpel wieder einmal zu Gesicht bekam. „Guten Morgen, Admiral“, erwiderte sie den Gruß und nickte dem Display leicht entgegen. „Was kann ich für Sie tun, Sir?“

„Ich möchte Ihnen Ihren neuen Auftrag durchgeben. In Anbetracht Ihrer kürzlichen Leistungen schien es mir angebracht, Ihnen den Einsatzbefehl persönlich zu übermitteln“, schnarrte Aretha. Na super, dachte sich die Trill. Kaum ist die Katana repariert, wird sie wieder weggeschickt, sich zu verbeulen. „Interessant“, schickte sie hörbar ihren Gedanken hinterher und verzog keine Miene.

„Sie werden in Sektor 42 für einen Monat die Sternenkarten aktualisieren. Wenn Sie darüber nachdenken, dann wird Ihnen die Ruhe zur Abwechslung gut tun. Sie haben es sich verdient“, sagte die Admiral im Brustton der Überzeugung. Ariell war uneins mit sich und noch nicht überzeugt. Einen Monat Ruhe? Schön und gut. Aber kartographieren? Also bitte! „Vielen Dank“, kniff sie durch ihre Zähne heraus. „Ich kann noch mit dem schriftlichen Befehl rechnen?“, fragte die Captain. „Er müßte jeden Moment eintreffen. Cunningham, Ende“, beendete Aretha die Verbindung.

Schrumpel, dachte Ariell. Womit haben wir die als befehlshabenden Offizier verdient.


Die roten Wolken. Es hätte nicht möglich sein dürfen. Die Nano-Satelliten waren auf die Existenz im menschlichen Körper angewiesen. Sie bedienten sich seiner Nährstoffe, um sich selbst zu erhalten.

Eines Tages tauchten rote Wolken auf. Sie bestanden aus abertausenden und Millionen von Nano-Satelliten. Obwohl sie zu klein waren, um gesehen zu werden, schimmerte das Licht rötlich, wenn es auf ihren Verbund traf. Sie konnten nicht ohne den Körper eines Menschen leben, so waren sie nicht konstruiert. Und doch war es geschehen, daß sie den Weg nach draußen gefunden hatten.

Sie waren todbringend. Sie versorgten sich mit Energie, indem sie Tiere befielen, indem sie Menschen befielen. Die Nano-Satelliten machten keinen Unterschied. Und sie vermehrten sich.

Matthew drückte Annes warme Hand, als er sich von ihr verabschiedete. „Mach es gut, meine Liebe. Paß auf Dich auf“, sagte er. Vorsichtig ging er, auf seinen Stock gestützt, aus dem Zimmer und in Richtung des anderen Ende des Flurs. Dorthin, wo er erwartet wurde.

Nach anfänglichen Erfolgen mit der Verlängerung des Lebens, sah die Politik die Forschung an den Nano-Satelliten als zu gefährlich an. Die Satelliten waren Gesprächsthema, wohin man nur schaute. Schließlich wurde die Forschung und der Vertrieb der Maschinen verboten, die Menschen fühlten sich sicher. Das war, bevor die roten Wolken kamen.

Menschen starben. Viele Menschen starben. Die Politiker sorgten schnell dafür, daß die Forschung wiederaufgenommen wurde. Die Firmen wurden mit vielfachen Milliardenbeträgen unterstützt, der Rückhalt der Bevölkerung war beispiellos. Tatsächlich wurde eine Lösung gefunden. Neuartige Nano-Satelliten, die einen Schutz vor der Gefahr boten.


Matthew betrat den Raum am Ende des Flurs. „Dort ist er“, sagte Thomas. Sein Begleiter half ihm, das Leichentuch zurückzuschlagen, das George bedeckte. „Ich kenne ihn“, sagte Matthew. „George, war das nicht Annes zweites Kind?“ Er zitterte bei dem Gedanken. Er hatte die Familie des Hauses oft besucht. George war um die 40 gewesen, als Matthew das erste Mal hier seine Pflicht erfüllt hatte. Doch die Satelliten hatten das unvermeidliche nicht endlos aufhalten können. George war gestorben. Zärtlich strich Matthew kurz mit der rechten Hand über die eingefallene Wange des Toten. Dann schlug er das Tuch ein weiteres Stück zurück, bis der Bauch vollständig zu sehen war. „Sie haben ihn soweit vorbereitet“, sagte Thomas das offensichtliche. Unterhalb des Bauchnabels war eine frische Öffnung in den Bauch geschnitten worden. Matthew seufzte und fuhr sein Fingerimplantat aus. Er steckte es in die Bauchöffnung. Mit der Routine seiner inzwischen 129 Jahre suchte er seinen Weg in Richtung Aorta zum Hals. Als er sie erreichte, sandte er den Sammelruf aus. Die Nano-Satelliten dieses Körpers würden zu ihm zurückkommen.


„Hopp, hopp, hopp!“, rief Dalen seinen beiden Kindern hinterher. „Sonst fliegt die Katana ohne uns ab!“ „Als ob das so schlimm wär“, maulte Atrin, der viel lieber auf Io geblieben wäre, um sich später still, heimlich und leise zur Erde abzusetzen. So ein richtig langer Urlaub in der australischen Wüste hätte ihm sehr gefallen. „Wann kommen wir denn wieder mal zur Erde?“, fragte er seinen Vater. „Wenn ich das wüßte, würde ich Dir jetzt eine Antwort geben“, gab Dalen mehr als ironisch zurück.

„Dalen!“, zischte seine Frau. „Was denn?“, wunderte der Doktor sich. „Stimmt meine Aussage etwa nicht?“ Adana rollte die Augen und seufzte innerlich. Mit ihrer Tochter Ena an der Hand lief sie Dalen in Richtung Transporterraum hinterher. Wen hatte sie da bloß geheiratet.


Die Firmen hatten einen Weg gefunden, mit den roten Wolken umzugehen. Sie hatten Satelliten entwickelt, um die Menschen zu impfen. Jeder geimpfte Mensch war vor den Wolken sicher. Bekämpfen ließen sie sich nicht. Sie waren zu klein, sie waren zu viele, sie waren nicht faßbar. Aber sie waren sicher.

Für deren Herstellung gab es Basis-Satelliten. Sie wurden einem Menschen gespritzt. Darauf nisteten sie sich in seinen Organen ein und bauten sie für ihre Zwecke um. In einer Symbiose mit dem Menschen produzierten sie fortan die für die Impfung notwendigen Satelliten. Doch die Zwickmühle war, solche Menschen waren vor den Wolken nicht geschützt. Sie konnten nicht beides sein. Matthew war einer dieser Menschen. Er hatte als einer der Freiwilligen sein Leben als Forscher aufgegeben, um das Überleben der Menschheit sicherzustellen. Sein eigenes Leben war jedoch ständig in Gefahr. Er war ständig in Gefahr, von einer Wolke gefaßt zu werden.

„Ich habe alle“, sagte Matthew und zog sein Implantat aus dem Körper heraus.

Anschließend ging er die Stufen herunter in das Erdgeschoß. Aus dem zweiten Zimmer zur rechten Seite hörte er Gebrabbel und heiteres Lachen. Als er eintrat, richteten sich sämtliche Augen auf ihn. „Danke, daß sie Zeit für uns haben“, sagte ein Mann, der einen Arm um seine Frau gelegt hatte. In lockere, weiße Tücher gewickelt hielt sie ihr gemeinsames Baby. „Ich tue nur meine Pflicht“, sagte Matthew mit gebrochener Stimme. „Wie heißt es denn?“, fragte er. „Anne“, sagten sie strahlend. „Nach unserer Ur-Großmutter.“

Leichenfledderer, Messias. Es gab viele verschiedene Namen für einen wie ihn. Es gab nicht genug Nano-Satelliten für alle. Die Menschheit war gezwungen, die Maschinen der Toten wiederzuverwenden. Es gab viele, die nicht geimpft werden konnten. Für sie war er ein Leichenschänder, jemand der sich an der Ehre der Toten vergriff, um gutbetuchten Leuten zu helfen. Dann gab es die anderen, die glücklichen. Die, denen er helfen konnte. Leute wie in diesem Raum, Leute, die ein Kind bekamen. Sanft strich er dem Baby über die Wange. Er streckte seinen Finger dem Kind entgegen, das neugierig den Finger mit seiner ach so kleinen Faust umschloß. „Ich gebe ihr 50.000“, sagte er und schickte diese Menge an Satelliten durch die Haut des Kindes. Das Paar konnte ihren Ohren kaum glauben, solch eine Menge. Das Baby blinzelte und merkte kaum, wie ihm geschah. „Von nun an wirst Du gesund durchs Leben gehen. Du wirst viele gute Jahre vor Dir haben.“ Matthew hoffte es würde sich bewahrheiten.

Mit einem schwachen Lächeln nahm er die dankbaren Hände des Paars entgegen und schüttelte sie leicht. „Danke. Vielen Dank“, sagten sie fast sprachlos. „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken kann. Wenn Sie irgendetwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“

Matthew ließ sich seinen Gehstock reichen. Dann drehte er sich dem Vater zu und klopfte ihm auf die Schulter. „Sie wird leben. Das ist mir Dank genug“, sagte er. Mit diesen Worten hakte er sich bei Thomas ein und schritt aus dem Zimmer, hinaus aus dem Haus. Er setzte sich nach hinten in sein Gefährt und ließ sich von Thomas seinem nächsten Bedürftigen entgegen fahren.

Das Mädchen war Nummer 14 heute. Sechs lagen noch vor ihm. 140 in der Woche. 560 im Monat, 7300 im Jahr. „So viele Menschen, so wenige von uns“, sagte er, als sie der Abendsonne entgegen fuhren.


Majestätisch, aber ziemlich gelangweilt flog die Katana ins Innere des Sonnensystems S42/EN313 ein. Genauer gesagt, langweilte sich nicht das Schiff, sondern vielmehr die Besatzung, die sich auf ihm befand. Aber aus Sympathie hatte die Katana beschlossen, sich ebenfalls zu langweilen. Tomm Lucas saß an der Conn und bediente wie gewohnt souverän die Kontrollen. Was auch nicht weiter schwer war, da keinerlei Raumgefechte in der Luft lagen. Alle paar Minuten drückte er einige Tasten und vergewisserte sich, daß der Autopilot der Katana weitere ein oder zwei Prozent der Reisestrecke hinter sich gebracht hatte. Er freute sich. Das Display vor ihm zeigte an, daß sie fast da waren. „Commander“, meldete er sich zu Wort. „Wir fliegen soeben die inneren Planeten von EN313 an“, gab er an Tannier durch, der das Kommando innehatte.

Mit dem Gleichmut, der einem Minbari der religiösen Kaste eigen war, nahm er die Information nickend zur Kenntnis. „Gut, Mr. Lucas“ erwiderte er. „Tannier an Lieutenant Bruckner, sie können mit den Untersuchungen anfangen.“

„Verstanden, Sir“, sagte sie und beendete die Verbindung. Sie änderte die Betriebsart ihres Displays und schaltete die Hauptsensoren des Schiffes auf. Mit einigen Tastendrucken startete sie den Standard-Scanmodus. Sie griff nach der Tasse Kaffee, die neben ihr stand und nahm einen Schluck. Als die allerersten Resultate eintrafen, sagte sie nachdenklich: „Was ist das denn?“ Die Daten des vierten Planeten paßten überhaupt nicht mit denen der Bibliothek überein. Etwas mußte sich dort dramatisch verändert haben.


(Ein Dankeschön geht an die Redaktion der Zeitschrift c't, deren Story ich hier (hoffentlich *g*) kreativ verwurstet habe.)