Katana:Sonderlogbuch 422391
Eine Zeit zu Glauben
Sternzeit: 42239.1
Datum: 28.03.2365
Autor: Seeta Yadeel
"E a fé tinha-os conservado assim do condenación", beendete eine leise, sanfte Stimme ihre Erzählung. Mit gelblich schimmernden Augen streichelte die Frau über den Haarschopf des Kindes, das auf ihrem Schoß saß, und gab schließlich dem rastlosen Zappeln nach.
"Recorde sempre que as pedras o guiarão, Seeta", mahnte die runzlige Frau ein letztes Mal, dann sah sie zugleich zufrieden und müde ihrer jüngsten Enkeltochter hinterher, wie sie aus dem Zimmer stürmte. Sie liebte den kleinen, energischen Wirbelwind mit dem aufbrausenden Temperament abgöttisch. Es war kein Geheimnis, daß die kleine Seeta der Liebling der Gründerin des Klans war.
Vorsichtig nahm Dureena Nafeel ihren alten Stock vom Boden auf. Die hölzerne Gehhilfe war ebenso knorrig wie die alte Frau, die sich seit einigen Jahren beim Gehen darauf abstützen mußte. Ihre Zeit war um und wenn sie auch dem Tod nicht freudig entgegen sah, so war er doch kein Feind mehr. Sie hatte ihr Leben gelebt, ihre Erfahrungen gesammelt, ihren Anteil an Freude und Leid erfahren. Für sie war es Zeit bald in die Halle der heiligen Steine zurückzukehren und sich dort in ewiger Ruhe niederzulassen.
"Du solltest sie nicht so verwöhnen, Großmutter", hörte sie die Stimme ihrer ältesten Enkeltochter, die wie stets herbeieilte, um ihrer Großmutter zu helfen. Die Alte nickte der jungen Frau zu und meinte: "Da magst Du recht haben, mein Kind, aber sie ist doch noch so klein. Ihr anderen, Ihr seid alle aus dem Alter herausgewachsen, in dem ich Euch auf meinem Schoß schaukeln konnte. Und auch sie wird schon bald nicht mehr bei ihrer alten Madrana sitzen wollen."
Hadja nickte bedacht und meinte vorsichtig: "Aber umso schwerer wird sie eines Tages Dein Verlust treffen. Ich frage mich, wie die Kleine damit fertig werden soll, daß ihre geliebte Madrana nicht mehr um sie ist."
Dureena streckte sich bewußt und meinte: "Noch bin ich nicht heimgegangen, mein Kind. Und ich hoffe, daß es nicht sein wird, bevor Seeta gelernt hat auf die ihr eigene, innere Kraft zu vertrauen, die nur die Steine ihr geben können."
Hadja hakte sich bei ihrer Großmutter unter und stützte sie so unauffällig und respektvoll, während sie den Innenhof der Hazienda verließen, in dem Dureena nun schon seit so vielen Jahren pflegte, die Kinder der Familie in Glauben, Kultur und Geschichte ihres Volkes zu unterrichten, die beinahe verloren gegangen wären. Vorsichtig stieg sie gemeinsam mit ihrer Enkeltochter die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf. Die Erzählung über die Legende von Haradama hatte sie erschöpft. Sie wollte sich jetzt hinlegen und für einige Minuten die Augen schließen.
Langsam suchte die Träne sich ihren Weg die Wange hinunter. Zornig wurde sie von einer Kinderhand fortgewischt. Das Kind sprach nicht, ebenso wenig wie die anderen Anwesenden. Es war eine Zeremonie im kleinen Kreis geworden. Nur ihre engsten Anverwandten waren eingeladen worden, Dureena Nafeel auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Nur ihre Kinder und Kindeskinder und zum Teil wieder deren Kinder waren zugegen gewesen, als der Leichnam der alten Frau, die so viel für die Rettung der Spezies getan hatte, verbrannt worden war. Schweigen herrschte, während die Flammen um das Holz und auch den Körper der Frau züngelten und der Rauch zum Himmel aufstieg, wie es seit Jahrtausenden auf Zander Prime Tradition gewesen war. Auch wenn Dureena fern ihrer Heimat gestorben war, so hatte sie doch stets großen Wert darauf gelegt, daß die Kultur der Vertriebenen bestehen blieb, und so wurde ihr Tod ebenso traditionell begangen, wie die Frau ihr Leben gelebt hatte. Später würde man ihr Leben feiern, essen, trinken und lachen, doch jetzt herrschte Stille.
Seeta kannte die Rituale, die stattgefunden hatten und stattfinden würden in- und auswendig. Sie war eine gute Schülerin ihrer Großmutter gewesen und wußte genau, was jetzt von ihr erwartet wurde. Und sie würde diese Erwartungen erfüllen, der Großmutter zuliebe. Aber ihr Herz war leer und kalt. Ihr war die Wärme und Fürsorglichkeit Dureenas genommen worden. Sie konnte das nicht tolerieren und genauso wenig konnte sie den Glauben tolerieren, den die Großmutter versucht hatte ihr zu vermitteln. Die Steine bestimmten ihr Schicksal, ihren Lebensweg, auch wenn sie es nicht merkte, auch wenn sie glaubte, ihren Weg selber zu wählen. Aber das konnte nicht sein, denn dann wären sie nicht so grausam gewesen, ihr die geliebte Großmutter zu nehmen.
Taraana Yadeel sah zu ihrer jüngsten Tochter hinüber und unterdrückte ein Seufzen. Seeta hatte den Tod Dureenas alles andere als gut verkraftet. Seitdem sie davon erfahren hatte, hatte sie kein Wort ihrer Muttersprache, die ihr von Dureena vermittelt worden war, gesprochen. Die Fünfjährige wirkte verschlossen und abwesend. Taraana fragte sich, was in ihrem Kopf vorging. Sie hoffte, daß der alte Kampfstab, von dem sie wußte, daß ihre Mutter ihn Seeta vermacht hatte, ihr helfen würde schnell wieder auf die Beine zu kommen. Sie hatten in den vergangenen Tagen das fröhliche und ungezwungene Lachen ihres Nesthäkchens vermißt.
Der Blick der Matriarchin wanderte zurück zu dem Feuer vor ihr. Still entbat sie ihrer Mutter einen letzten stillen Gruß. Auch sie würde den Rat der weisen, alten Frau vermissen. Nun lag die Bürde der Führung der Familie ganz alleine auf ihren Schultern. Sie hoffte, daß sie der Aufgabe gerecht wurde und eine gute Führerin sein würde.
Wütend drosch Seeta mit dem Kampfstab auf ihren Gegner ein. Eigentlich war die Waffe viel zu groß für eine solch kleine Person, aber sie hatte bereits zuvor einige Male damit experimentiert gehabt. Großmutter Dureena hatte versucht, ihr trotz ihrer Jugend die Grundzüge des Umgangs damit zu vermitteln. Nun gab es niemanden mehr, der ihr dies beibringen konnte, aber sie war sicher, daß sie es auch so erlernen würde.
Das kleine Mädchen fühlte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Die Waffe fiel ihr aus der Hand und unversehens fand sie sich auf dem Rücken liegend vor, ihr Gegner stand turmhoch aufgerichtet über ihr, ein Bat'leth in der Hand. Gerade als er es auf sie niederfahren lassen wollte, hielt er in der Bewegung inne. Eine Stimme verkündete: "Simulation beendet", was die kaum Sechsjährige dazu veranlaßte, sich vom Boden hochzustemmen und an eine in die Seitenwand integrierte Konsole zu treten und "Simulation fortführen", zu verlangen.
"Eine Fortführung der Simulation ist für Ihre Altersgruppe nicht zulässig. Die Simulation ist damit beendet", erklärte ihr die Maschine. "Die Simulation ist nicht beendet", verkündete sie und machte sich daran, die Abdeckung der Konsole zu lösen. Dann spähte sie ins Innere und begann schon bald Kabel an der einen Stelle zu lösen und probehalber an einer anderen wieder anzuschließen.
"Kommst Du jetzt endlich, Seeta?", hörte die Zanderianerin zum mindestens zehnten Mal die Stimme ihres Bruders Manato. Seitdem er sein Herz für ihre Freundin Ariata entdeckt hatte, legte er Wert auf ihre Gesellschaft bei den diversen Festen der zanderianischen Gemeinde auf Kuba. Seeta allerdings hegte die leise Vermutung, daß er eher die Kurven ihrer Freundin bewunderte, denn deren spritzigen Geist. Und daß Manato sie nur wegen seiner Freundin dabeihaben wollte, war ihr schon lange bewußt.
Statt einer Antwort ließ sie eine Leitung neben sich auf den Boden fallen und steckte ihre Nase nur noch tiefer in die Innereien des hoffnungslos veralteten Replikators. Befriedigt nahm sie das leise Fluchen ihres Bruders zur Kenntnis, dem das Einzelteil wie geplant auf den Fuß gefallen war. "Seeta...", drängelte er weiter, was ihm ein Schnauben einbrachte. "Geh schon mal vor", maulte es zurück, "ich brauch hier noch eine Weile."
Schließlich zuckte Manato Yadeel mit den Schultern und verließ die Werkstatt, in der seine Schwester seit Jahren mit Hingabe an den diversen Maschinen herumschraubte. So wie er sie kannte, würde sie nicht nachkommen, sondern sich hier in ihren Spielereien verlieren.
Vorsichtig zwängte Seeta sich durch den Spalt, den vor ihr bereits alle anderen ihres Kurses "Nachteile moderner Technologien erkennen und vermeiden" passiert hatten. Die Zanderianerin war Teil einer Exkursion nach Minos. Hier gab es ein Mahnmal für die verheerenden Auswirkungen von falsch programmierter und angewandter Technik. Die Studenten des Kurses der Sternenflottenakademie des technischen Zweigs sollten hier aus erster Hand sehen, was passieren konnte, wenn sie nicht vorsichtig genug bei ihrer Arbeit waren, die sie schon in wenigen Wochen nach Bestehen der Abschlußprüfung beginnen sollten.
Die ganze Zeit war sie hinter den anderen hergetrottet. Es war ihr schwer gefallen in dem Kurs überhaupt Anschluß zu finden und gerade im Moment war sie selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich reizbar, was es nicht leichter auf dieser Expedition machte. Selbst der eigentlich sehr interessante Vortrag des Dozenten konnte sie nicht wirklich fesseln und so hatte sie irgendwann den Anschluß an die Gruppe verloren, die von einem Führer durch die unterirdischen Katakomben auf Minos geleitet wurde.
Irritiert sah die Zanderianerin sich um. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Richtung sich der Ausgang befand, zu sehr war sie in ihren eher düsteren Gedanken gefangen gewesen, um auf den Weg zurück zu achten. Sie bog ziellos um einige Ecken und stellte schließlich resigniert fest, daß sie wohl um Hilfe bitten mußte. Es sollte dem Transporter, mit dem sie hierher gekommen waren, problemlos möglich sein, ihr Signal zu erfassen und sie raufzubeamen. Professor Hayden würde nicht gerade erfreut über sie sein, aber sie sah keine andere Möglichkeit, hier herauszukommen.
Seeta bog um eine weitere Ecke und schlug mit der Hand an ihren Kommunikator, ihr antwortete jedoch nur ein leises Piepsen, sicheres Zeichen dafür, daß keine Verbindung zustande kam. Erneut seufzte sie und wandte sich um. Wenn sie den Weg zurückging, den sie gerade gekommen war, würde es ihr hoffentlich gelingen, eine Verbindung zur Oberfläche herzustellen. Zu ihrem Entsetzen ließ sich die Tür, durch die sie gerade hereingekommen war, jedoch nicht wieder öffnen. Eine Weile versuchte sie, diese gangbar zu machen, mußte jedoch schließlich aufgeben. Mit wachsamem Gesichtsausdruck wandte sie sich schließlich um. Es sah so aus, als läge ihr einziger Weg hier hinaus nicht hinter der Tür, sondern weiter den Gang hinunter.
Vorsichtig tastete Seeta sich vorwärts. Bereits vor einer Weile hatte das Lichtniveau in den Katakomben mehr und mehr nachgelassen. Die Zanderianerin war von der Natur mit guten Augen ausgestattet worden, denen wenig genügte, um noch etwas erkennen zu können. Doch selbst die Angehörige der ehemals nachtaktiven Spezies konnte kaum noch mehr als Schemen ausmachen, und so mußte sie ihre Hände zu Hilfe nehmen, um nicht zu fallen, denn das hätte sich als fatal herausstellen können.
Nach einigen weiteren Metern glaubte sie, in der Ferne einen leichten Lichtschein ausmachen zu können. Sie wußte nicht, ob es sich dabei um den Ausgang handelte, bewegte sich aber trotzdem kurzentschlossen darauf zu, denn wesentlich mehr Optionen sah sie derzeit nicht. Tatsächlich erhellte sich ihre Umgebung mit jedem Meter ein wenig mehr, und schließlich fand sie sich vor einer halb offen stehenden Tür wieder. Vorsichtig schob sie sich durch den Spalt und fand sich auf einer kleinen Plattform wieder, die etwa zwei Meter über einer Art von Fertigungsstraße in den offenen Raum hineinragte.
Seeta hob den Kopf und sah nach oben. Die Decke war mehrere Meter von ihr entfernt und die Fertigungsstraße selber verschwand hinter einer Biegung, die sie von hier aus nicht einsehen konnte. Unsicher sah sie in beide Richtungen und fragte sich, wo wohl der Ausgang liegen mochte. Irgendwo mußten die hier gefertigten Waren wieder ans Tageslicht gelangt sein und sie wollte lieber gleich die richtige Richtung einschlagen. Kritisch betrachtete sie die Maschinen, die mitten in der Bewegung ihre Arbeit eingestellt zu haben schienen und entschied dann, daß der Ausgang sich wahrscheinlich zu ihrer Linken befand.
Die Zanderianerin musterte den Boden unter ihr und seufzte leise. Es gab keinen Weg, der neben der Fertigungsstraße vorbeiführte. Wahrscheinlich handelte es sich bei der Tür, durch die sie hereingekommen war, um eine Wartungsluke, durch die vollautomatisierte Drohnen in die Fertigungsstraße einflogen, um hier ihre Arbeit zu verrichten.
Ein wenig umständlicher als unbedingt erforderlich und inzwischen reichlich verärgert über sich selber, ließ sie sich auf dem Vorsprung nieder und streckte ihre Beine darüber hinweg. Dann sprang sie ab, in dem Versuch, eine möglichst ungefährliche Landung hinzulegen, was der in ihren Bewegungen oft an eine Katze erinnernde jungen Frau auch weitestgehend gelang.
Allerdings hatte sie in ihren Überlegungen eines nicht einkalkuliert, denn durch ihr Gewicht auf dem Boden wurde der Mechanismus, der hier irgendwann einmal unterbrochen worden war, wieder in Gang gesetzt. Mit einem leichten Rucken fühlte sie, wie sich die Fertigungsstraße unter ihr in Bewegung setzte. Gerade noch rechtzeitig sah sie einen Greifarm auf sich zukommen.
Behende drehte sie sich nach rechts auf der Produktionsstraße und konnte sich so dem Zugriff der Maschine entziehen. Allerdings war ihr Fluchtversuch nicht dauerhaft von Erfolg gekrönt, denn schon griff der nächste Greifer nach ihr. Sie fluchte leise und sprang auf ihre Beine, nachdem sie sich wieder durch eine Drehung in Sicherheit gebracht hatte.
Dann begann ein Rennen gegen die Maschinen, wie sie es sich nie hätte träumen lassen. Ständig stampfte etwas neben ihr auf den Boden oder griffen Arme nach ihr. Mehrmals mußte sie durch sich öffnende und schließende Rammböcke springen, die sie einige Male um ein Haar das Leben gekostet hatten.
Schließlich hörte das Stampfen und Greifen auf und die Fertigungsstraße verwandelte sich in eine Rutsche. Schlitternd rutschte sie immer tiefer, einem Abgrund entgegen, der ihren sicheren Tod bedeuten würde, so glaubte sie. Verzweifelt suchten ihre Finger nach einem Halt, konnten jedoch keinen finden. Das Licht wurde wieder trüber, je weiter sie sich von der Halle entfernte und schließlich hing sie mit beiden Armen am Ende der Rutsche über einem Abgrund, den sie nicht sehen konnte, aber doch sicher glaubte zu fühlen.
Um sie herum herrschte völlige Dunkelheit, irgendwo über sich konnte sie die Fertigungsstraße rattern hören, bis die Geräusche völlig verstummten. In ihrem Technikerhirn nahm sie an, daß jetzt, wo ihr Gewicht, das den Mechanismus ausgelöst hatte, fehlte, die Fertigungsstraße wieder in eine Art Ruhezustand ging. Sie glaubte irgendwo unter sich Wasser tropfen zu hören, war aber nicht völlig sicher.
Ihre Arme wurden schwerer und schwerer. Verzweifelt versuchte sie, sich irgendwie wieder nach oben zu ziehen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Wenn sie es nur zurück in die Halle schaffte, dann konnte sie versuchen, sie in die andere Richtung zu verlassen. Alles war besser als hier zu hängen, und zu warten, daß ihre Arme erschlafften und sie schließlich den Halt, den sie gefunden hatte, freigeben mußte.
Vorsichtig schwang sie ihre Beine in alle Richtungen, in der Hoffnung irgendwo Halt zu finden, doch ihre Bemühungen waren vergebens. Sie hing völlig frei über dem Abgrund, es gab kein Entrinnen mehr für sie. Es war ein kurzes Leben gewesen, das ihr vergönnt gewesen war, aber dennoch zumeist ein schönes, konstatierte sie gedanklich.
"Seeta!", hörte sie eine leise, weiche Stimme kaum hörbar an ihr Ohr dringen.
Sie war unsicher, ob sie etwas wahrgenommen hatte. Es war unmöglich, daß hier jemand war, noch dazu, der ihren Namen kannte.
" Seeta, eu estou aqui", vernahm sie wieder die weiche, leise Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam.
Die Zanderianerin runzelte die Stirn. Ob sie kurz vor dem Tod an Wahnvorstellungen litt? Oder war sie gar schon tot? Hatte sie schon losgelassen ohne es zu merken? Hatte sie doch eine der Maschinen auf dem Förderband erreicht? Oder träumte sie etwa?
"Você é seguro aqui", verkündete die Stimme, die von irgendwo schräg unter ihr zu kommen schien.
Die junge Frau fühlte, wie ihre Arme schwerer und schwerer wurden, wie ihre Kräfte geringer wurden. Die Stimme flößte ihr Vertrauen ein, ohne daß sie so recht wußte warum.
Seeta überlegte fieberhaft. Wenn sie einen kontrollierten Sprung in Richtung auf die Stimme durchführen wollte, dann mußte sie es jetzt tun, eh ihre Kräfte zu gering wurden.
Für einen Moment schloß sie die Augen, obwohl sie nichts sehen konnte. Sie sammelte ihre Kraft und vor allem ihren Mut und schwang dann ihre Beine einmal nach hinten. In der Vorwärtsbewegung löste sie ihre Hände von der Rutsche über ihr und flog auf die Stelle zu, an der sie die Stimme vermutet hatte.
Schmerzhaft prallte sie gegen eine Felswand und wurde leicht zurückgeschleudert, kam jedoch auf festem Boden auf. Sie war sicher, unzählbare blaue Flecken davongetragen zu haben, war jedoch froh, nicht ins Bodenlose gefallen zu sein.
Vorsichtig setzte die Zanderianerin sich auf. Sie war sicher, sich nichts gebrochen zu haben. Sie tastete den Boden um sich herum ab und stellte fest, daß sich unmittelbar hinter ihr ein Abgrund befand.
Sie folgte mit den Händen dem Vorsprung und stellte fest, daß sie sich auf einer kleinen Plattform befand, die etwa zwei mal zwei Meter groß war. Sie war unsicherer denn je. Sollte sie hier auf Hilfe warten oder irgendwie weiter versuchen, aus eigener Kraft herauszufinden?
Ein schnelles Klopfen auf ihren Kommunikator bestätigte ihre Vermutung, daß sie noch immer nicht in der Lage war, eine Verbindung zum Transporter im Orbit von Minos herzustellen.
"Vindo aqui, Seeta, vindo aqui", hörte sie die ihr auf seltsame Art vertraut vorkommende Stimme wieder. Sie schien diesmal nur etwa einen halben Meter von ihrem rechten Ohr entfernt zu sein.
"Vindo aqui, Seeta", wiederholte die Stimme und löste damit in Seeta einen unerklärlichen Drang aus, der Aufforderung zu folgen. Die junge Frau stemmte sich auf Knie und Hände und krabbelte in die Richtung, aus der sie die Stimme locken hörte.
"Vindo aqui, Seeta, vindo aqui", hieß es erneut, und Seeta krabbelte weiter in die Richtung, in welche die Stimme sie rief. Einige Male schrammte sie mit Schultern und Hüften an den Seiten an, und sie begriff, daß sie sich in einer Art niedrigen und engen Tunnel befand, vielleicht einem ehemaligen Belüftungsschacht. Als sie mit ihrem Kopf an die Decke stieß, senkte sie ihn, schloß die Augen und folgte blind der Stimme, die immer noch verkündete: "Vindo aqui"
Schließlich stieß ihr Kopf an einen metallenen Gegenstand vor ihr. Licht schimmerte ihr durch schmale Ritzen entgegen. "Seeta, vindo aqui", hieß es wieder von der anderen Seite dessen, was sie für ein Lüftungsgitter zu dem Schacht hielt, in dem sie sich befand.
Kräftig drückte sie mit beiden Händen gegen das Gitter, das sich schließlich kreischend aus seiner Befestigung löste und zu Boden fiel. Seeta blinzelte geblendet durch die Öffnung in den Eingangsbereich der Katakomben, von wo aus die Gruppe von Sternenflottenkadetten ihre Besichtigungstour gestartet hatte.
Sobald ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, suchte sie den Raum genauer ab. Die Öffnung ihres Schachtes befand sich etwas mehr als zwei Meter über dem Boden. Sie schob sich hindurch, bis nur noch ihre Beine in der Öffnung steckten, suchte mit ihren Händen Halt und zog dann ihre Beine nach. Sie schlug mit dem Rücken gegen die Mauer und ließ sich dann zu Boden fallen. Unsicher auf ihren Beinen stehend sah sie sich weiter in der Halle um. Sie konnte die Besitzerin der Stimme, die sie geleitet hatte, nicht ausmachen. Sie war alleine.
Nachdenklich starrte Seeta Yadeel aus dem winzigen Fenster ihres fast ebenso winzigen Zimmers an Bord des Transporters. Gedankenverloren kratzte sie an der kleinen Narbe an ihrem rechten Handgelenk, die sie sich vor mehr als 14 Jahren bei ihrem ersten Versuch, mit den Sicherheitsprotokollen eines Holoprojektors herumzuspielen, geholt hatte. Langsam drehte sich Minos unter ihr hinweg. Ihre Abwesenheit von der Gruppe war erst kurz vor ihrer Rückkehr bemerkt worden und sie hatte niemandem erzählt, was sie erlebt hatte. Zu wunderlich erschien es ihr.
Immer noch in ihren Gedanken verloren ging sie zum Replikator und bestellte einen Darjeeling-Tee. Schon bald hielt sie ein dampfendes Teeglas in der Hand. Sie ging hinüber zu der in die Wand eingelassenen Kommunikationseinheit und aktivierte sie. Das übliche Piepsen signalisierte ihr, daß das Gerät bereit war.
"Eine Nachricht an Shadan Yadeel aufzeichnen", verlangte sie vom verlängerten Arm des Bordcomputers der S.S. Jahorina. Ihre Bitte wurde umgehend bestätigt durch ein "Bereit" des Schiffsrechners. Seeta schob sich eine schwarze Haarsträhne hinter ihr linkes Ohr und begann dann mit der Nachricht an den ihr nahestehenden jüngeren Bruder.
"Mir ist heute etwas wunderliches passiert, Shadan", begann sie ohne Einleitung. Es war stets, als hätten sie schon eine Weile nebeneinander gesessen und geplaudert und gerade eben fiele ihr etwas ein, was sie ihm noch unbedingt habe erzählen wollen, wie einst in Kindheitstagen. Sie nahm einen Schluck aus ihrem Teeglas und begann dann mit einer Schilderung der Erlebnisse des Tages.
"Ich kann nicht sagen warum ich dieser Stimme vertraute und ihr folgte. Es war wie ein Instinkt, ich konnte gar nicht anders als ihr folgen. Es war wie ein Sog, der stärker und stärker wurde. Immer wenn sie lockte 'Vindo aqui'..." sie machte eine kurze Pause, weil ihr bewußt wurde, daß ihr Bruder kein zanderianisch verstand. Er war gerade erst geboren gewesen, als Großmutter Nafeel verstarb und irgendwie hatte es nie jemand auf sich genommen, ihn in der Erlernung der Muttersprache zu unterrichten. "Immer wenn sie lockte: 'Komm her' konnte ich nicht anders, als ihr zu folgen. Sie hatte mir Sicherheit versprochen, und sie hat mich nicht enttäuscht."
In Gedanken hörte sie wieder die Stimme, wie sie verkündete: 'Você é seguro aqui' – Du bist hier in Sicherheit. Noch immer konnte sie fühlen, welche Geborgenheit ihr der Klang dieser Stimme vermittelt hatte.
"Ich weiß nicht so recht was ich davon halten soll. Ich habe vor langer Zeit aufgehört, an die Steine zu glauben, aber diese Erfahrung hatte etwas spirituelles. Es war, als hätten sie mich behütet und geführt, mich vor dem sicheren Ende bewahrt", führte sie mit nachdenklicher Stimme aus. Wieder machte sie eine Pause, in der sie einen Schluck aus ihrem Teeglas nahm.
"Wir reden nach meiner Rückkehr zur Erde darüber. Und noch über einige andere Dinge", beendete sie ihre Überlegungen. "Computer, Ende der Nachricht. Versenden an Shadan Yadeel auf der Erde", fügte sie hinzu, was ihr mit einem weiteren Piepser bestätigt wurde.
Seeta stellte ihr Glas zurück in den Replikator und sah zu, wie es wieder darin verschwand. Sie hatte das vertraute und zuverlässige Arbeiten der Maschinen und technischen Gerätschaften um sie herum stets als beruhigend und tröstlich empfunden. Nach den Erfahrungen des heutigen Tages war ihr bewußt, wie gefährlich die Technik, mit der sie sich Tag für Tag umgab, sein konnte. Man mußte vorsichtig sein und sie im Griff behalten, sonst konnte sie die Zivilisation, deren Leben sie erleichtern sollte, völlig zerstören. Der Planet, der sich unter ihr dahindrehte, war ein Mahnmal dafür.
Sie wurde sich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder bewußt, daß es mehr als nur die körperliche Ebene gab. Der Geist und die Seele waren ebenso wichtig wie der Körper. Ihr wurde bewußt, daß sie den spirituellen Teil ihrer Existenz viel zu lange vernachlässigt hatte. Sie war ein Kind gewesen, als Großmutter Dureena starb und zu jung und unerfahren, um die Notwendigkeit des Sterbens und des Generationenwechsels zu verstehen. Als Reaktion auf den Verlust hatte sie eine Seite in sich völlig verleugnet und ihren Glauben abgelegt.
"E a fé tinha-os conservado assim do condenación", wiederholte sie die letzten Worte, die ihre Großmutter je zu ihr gesagt hatte. Sie erinnerte sich an den weichen Klang ihrer Stimme, die ihrer eigenen so ähnlich war. Sie hatte der Stimme geglaubt, die sie aufgefordert hatte, ihr in die Sicherheit zu folgen. Die Stimme, die sie so sehr an Großmutter Dureena erinnerte.
"Und so hatte der Glaube sie vor der Verdammnis bewahrt", wiederholte sie erneut. Auch wenn sie nicht Achen aus der Legende von Haradama war, hatte sich die Aussage heute für sie bewahrheitet. Der Glaube hatte sie vor dem Tode bewahrt.
"Ich werde mich immer daran erinnern, Madrana", beantwortete sie endlich die letzten Worte ihrer Großmutter, die sie ermahnt hatte, die Lehre, die diese gerade erteilt hatte, niemals zu vergessen.
Und jetzt endlich begriff Seeta, daß es für alles im Leben eine Zeit gab. Eine Zeit zu Lachen, eine Zeit zu Weinen, eine Zeit zu Lieben, eine Zeit zu Hassen, eine Zeit zu Heilen, eine Zeit zu Leben und eine Zeit zu Sterben, vielleicht sogar eine Zeit zu Töten. Und ganz bestimmt auch eine Zeit zu Glauben.